...bedeutungsweise Kunst
Der Begriff „Semantische Kunst“ (semantic art) ist noch nicht eindeutig definiert. Ende der 50er Jahre des letzten Jahrhunderts haben zwei oder drei Künstler oder Designer begonnen Pictogramme zu entwerfen, die aus einfachen bildhaften Anteilen eine deutliche Botschaft heraus lesbar machen sollten. Als anschauliches Beispiel mag nebenstehendes Pictogramm dienen, bei dem wohl jeder erkennen wird, dass es sich um so etwas wie einen „Fluchtweg“ oder „Notfallausgang“ oder Ähnliches handelt. Das Pictogramm ist tatsächlich raffiniert gemacht. Nicht nur, dass man sofort sieht, dass hier jemand durch eine Öffnung, eine Türe läuft. Man sieht auch, dass der Läufer schon halb hindurch ist, weil sein linker Arm nicht mehr sichtbar ist, sein rechter Fuß aber sich noch vor der Öffnung befindet. Doch zusätzlich ist noch geschickt gezeigt, dass der Läufer sich auch in ein Draußen, in ein wirkliches Hinaus begibt, denn das Sonnenlicht wirft den Schatten seines linken Beins noch in den Raum davor zurück. All diese einzelnen Aspekte erfasst der Betrachter natürlich intuitiv sofort. Hier ist also tatsächlich Semantik, Bedeutungsmacht, Bedeutungslehre im Spiel. Das Wort Semantik kommt aus dem Griechischen σημαίνειν (sämainein), zeigen. Es geht also darum, dass man nur durch Zeigen und nicht so sehr durch elaboriertes Sprechen eine Bedeutung vermittelt. Bildliches Material eignet sich hier also besser als sprachliches, obwohl die Semantik als klassische Wissenschaft von der Linguistik her gekommen ist.
Doch es geht ja hier um Semantische Kunst, wo ja ohnehin das Bildhafte dominiert. Während im pictographischen Bereich der Zusammenhang von Bild und Bedeutung noch recht schlicht und einfach ist, erwarten wir zu Recht von der Kunst etwas mehr. Bilder, die Bedeutung ausstrahlen, hat es natürlich immer schon gegeben. Man könnte mit Delacroix „Die Freiheit führt das Volk“ (Bild: Wikipedia Commons) anfangen. Die Semantik dieses Bildes ist allerdings etwas überromantisiert simpel, denn der zusätzlich gegebene Titel verrät ja schon alles. Trotzdem hat Delacroix durch die rote Fahne und durch die Busenfreiheit der Hauptprotagonistin den Bedeutungswert des Wortes Freiheit noch erheblich erhöht. Einfach topless voran zu stürmen war für die damalige Zeit schon etwas sehr Unerhörtes, Libertines, Freies eben. Hier ist also schon deutlich Semantik im Bild mit enthalten. Dennoch werden derartige Bilder heutzutage sowohl von Kunstkennern, Kunsthistorikern und auch nur einfachen Kunstbetrachtern nicht unter der Rubrik Semantische Kunst angesehen.
Heute verlangen wir etwas mehr. Der Titel soll möglichst wenig oder gar nichts verraten. Zu sehr figurativ und zu natürlich bzw. realitätsbezogen darf das Bild eines Semantischen Künstlers auch nicht sein. Natürlich kann auch ein Neorealismus-Bild, indem es eine Landschaft fast übertrieben perfekt abmalt, eine Wirkung erzielen, die ebenso noch ein bisschen bedeutungsgeladen ist. Denn obwohl man doch sehr schnell sieht, dass das Bild keine Photographie ist, hat es gerade wegen des künstlerischen Einsatzes, seiner Farben und Technik noch die zusätzliche Bedeutung: sieh diese Realität in ihrer eigentlichen Totalität, in ihrer herausgehobenen Schlichtheit und Perfektion, in ihrer – so müsste man sagen – Überrealität.
Jan Vermeer ist hier ein Vorgänger. Sein Bild "Die Spitzenmacherin" (Bild: Wikipedia Commons) könnte fast ein Photo aus vergangenen Zeiten sein, hätte es dies damals gegeben. Doch der Wert des Bildes liegt eben in seiner wenn auch erst noch gering verdeutlichten Semantik. Die Komposition von Gegenständen und die Haltung der Figur, die Wahl der Farben und dieses volle Konzentriertsein auf die Näharbeit geben dem Ganzen die Bedeutung eines zwar im Moment aber doch auch für Jahrhunderte bewahrten harmonischen Daseins. Gerade weil man sieht - selbst wenn es damals Photographie gegeben hätte - dass es eben ein gemaltes Bild ist, bekommt es diese zusätzliche Aussage. Diese ist noch deutlicher in den Bild "Soldat und Mädchen" oder die "Milchmagd". Obwohl der Soldat am gleichen Tisch sitzt wirkt er sehr viel größer, also auch gewichtiger, beeindruckender. Und bei der "Milchmagd" fällt auf, dass die Milch nur als haudünnes Rinnsal aus dem Krug rinnt, so als würde die Magd den Krug jeden Moment gerade wieder absetzen. Alle derartigen Momente, natürlich einschließlich der sonstigen Stellungen der Dinge und Menschen und der besonders ausgewogenen Farben, erzeugen bei Vermeer eine dahinterliegende Bedeutung, Semantik, die dem Kunstinterpreten schon immer als "geheimnisvoll" und bewegend aufgefallen ist (siehe das neue Buch von Nild Büttner in der Reihe Beck-Wissen).
All das soll uns aber nicht ablenken von dem, was nur wirklich Semantische Kunst ist, also etwas, wo das Semantische nicht ein kleiner zusätzlicher Effekt ist, sondern das Wesen des Bildes selbst.Wo es aber auch nicht wie oben im ersten Bild gezeigt nur ein Piktogramm ist, ein raffiniert gestaltetes Hinweisschild, das vielleicht auch eher ein graphisches Handwerk und nicht Kunst im vertieften Sinn ist. Um diesem Anspruch nun näher zu kommen hier ein Bild von T. Heydecker, um deren Webseite es sich hier ja auch handelt. Es zeigt etwas, was mit der Beziehung von Mann und Frau zu tun hat. Aber um was handelt es sich? Zweifellos geht es auch um die Erotik zwischen den beiden, Hände und Füße greifen durcheinander oder ist es eher der Kopf, der durcheinander geraten ist? Auf jeden Fall spielt sich das Ganze im Computerzeitalter ab, wo man denkt, dass man notfalls einfach den „reset“ Knopf drückt, um die Ausgangssituation wieder her zu stellen, in der ja alles noch so klar und geordnet war, oder? Das Bild steckt voll Semantik, und der Betrachter muss selbst die Lösung des Rätsels finden. Und tatsächlich, es kann ja nur jeder für sich die letztliche Bedeutung erkennen, die das Bild für ihn hat. Ein wesentlicher Zug der Semantischen Kunst liegt sicher auch darin, den Betrachter ganz einzuspannen in den tieferen und endgültigen Sinn eines Bildes.
Dies kann manchmal auch durch ganz einfache kleine Gesten geschehen, die dem Alltagsleben entnommen sind. In dem unternstehenden Bild sitzt eine Frau wie im Wartezimmer einer Arztpraxis auf einem Hocker. Um sie zu charakterisieren benötigt man gar nicht ihren Kopf, braucht man gar keinen Blick in ihr Gesicht zu tun. Sie sitzt so alltäglich, so nebensächlich da, so wie sie eben in ihrem ganzen Leben wahrscheinlich dasitzt: die Füsse einwärts gestellt, ohne also auf Haltung und Eindruck zu achten. Ihre einfache Kleidung unterstützt das Ganze noch, so dass man das Bild gut und recht "Eine Sitzende irgendwer" bezeichnen können. Sind wir nicht selbst auch meist so ein "irgendwer", der eigentlich lebt von dem Schattenspiel der Hockerbeine, von dem Dunke-Hell-Kontrast und all den kleinen Bedeutungszeichen, mit denen T. Heydecker uns hier die Welt vorführt.
Doch die Semantik in den Bildern von T. Heydecker kann noch viel dichter und komplexer ausfallen. In dem nächsten Bild mit dem Titel "lolitasrache" erkennen vielleicht viele nicht sofort den Zusammenhang. Lolita ist vervielfältigt, sie steht halb versteckt, geschützt und ungeschützt zugleich in und hinter oder in einem Feld von Halmen, dunklen und blutroten wie sie selbst. Sie ist das kleine Mädchen so wie es Nabokov nicht sehen wollte. Natürlich wollte er sie so jung und noch kindhaft sehen, denn hinter seinem heterosexuellen Begehren steckte noch das seiner Pädophilie. Doch er wollte das Perverse seiner Sucht nicht einsehen, obwohl es doch jedem Leser seines Buches sofort einsichtig war. Aber die Leser selbst waren ja nicht viel anders, denn wie sonst sollte dieses im Grunde genommen schlichte Buch so einen Erfolg gehabt haben, wenn die Leser nicht selbst ihre eigenen Lolitasüchte darin beschrieben gefunden hätten. Deswegen ist Lolita mehr fach dargestellt und deswegen ist auch alles so rot von dem Blut der jungen Frau.
Ihr Kinderschänder muss daher seinen Kopf in die Schüssel mit ihrem Blut stecken, vielleicht begreift er dann, um was es eigentlich gegangen ist. Ein herkömmlicher Maler hätte dies anders dargestellt, figurativ zwar auch, aber in der Semantik nicht so hintergründig und auch nicht so schockerzeugend frontal.
In dem Bild Chaosliebe I (unten) finden wir eine ähnliche Semantik wieder. Erneut ist auf den ersten Blick nicht allles zu sehen. Aber doch: es sind menschliche Körper wie in einem großen Knäuel verknotet und durchwunden. So stellt sich der Mensch das wohl mit dem Liebe machen vor, dass die Körper in einander verschmolzen sind, vereint. Die Kunst besteht in der Art, das so zu zeigen, als sei es wirklich gelungen, denn da sind doch die Füße und die Arme, die Schenkel und die Köpfe. So versucht man es doch in der Pornographie. Doch die Pornographie kann es gar nicht so treffend darstellen, wie es in dem Bild von Frau Heydecker herauskommt. In der Pornographie wird es nämlich nur durch Übertreibung, grelle Darstellung und irgendwelche sexistischen Akrobatiken versucht, was in der Semantischen Kunst viel besser gelingt: das Chaotische der Liebe ist wirklich gelungen, die Durchknäuelung und Verschmelzung geglückt. Was in der Realität niemals erreicht werden kann, die Kunst ermöglicht es eben. Wirkliche Chaosliebe gibt es nur in der Kunst.
Das Wesen der Semantischen Kunst besteht also einerseits gerade in ihrem Versteckspiel, mit dem sie Dinge zeigen kann, die wir in Wirklichkeit nicht selbst erleben können. Andererseits kann sie viel tiefgründiger und zutreffender etwas über diese Dinge auch aussagen. Hätten wir gewusst, dass die körperliche Liebe schön und doch so unmöglich ist? Dass sie hier versucht wird und doch nie gelingen kann? Lacan sagt, dass der Sexualakt eine "Fehlleistung" ist im Freudschen Sinne, ein unbewusstes Danebengehen, ein Patzer. Das klingt schroff, während es hier im Bild doch ästhetisch dargestellt ist. Die Semantische Kunst kann die tiefen Hintergründigkeiten eben mit gelungener Ästhetik sagen. Das könnte mit einer rein figurativen Darstellung nicht gelingen und rein abstrakt würde es wirklich danebengehen.
Zum Abschluß nochmals ein Bild, das die Vielschichtigkeit des Semantischen besonders gut darstellt. In dem Bild mit dem Titel "No Exit" stehen zwei ältere Herrschaften vor der Frage, wie es weitergehen soll, wohin sie sich wenden sollen. Links weiter oben scheint es einen hell beleuchteten Ausgang zu geben, aber eigentlich ist wieder nur das Paar selbst dargestellt. Kreuz und quer findet das Paar immer wieder nur sich selbst und seine unmittelbare Umgebung wieder. Aber so ist es doch im Leben, man spiegelt sich immer wieder in sich selbst, man kommt nie so ganz und wirklich zum Anderen hinüber. Selbst hinter den narzisstischen Speigelungen lauern noch die einer Geltungssucht oder eines monomanen Eros. Wir setzen die Träume, die wir nachts haben, mit anderen Vorzeichen und unter anderer Regie am Tag nur wieder weiter fort. Die Situation ist kafkaesk: es gibt keinen Ausweg. Und doch, da ist noch das beruhigende Mondlicht rechts oben, die beiden Alten haben gepflasterten Boden unter den Füßen, und dann haben sie ja vielleicht noch sich selbst. Die Malerin lässt es offen, und es steht ja auch nirgendwo, ob sich hinter dem Titel "No Exit" vielleicht doch ein Fragezeichen befindet.